Gendergerechte Physiklehrmittel - Heute schon Realität?
Sind Physiklehrmittel bereits gendergerecht? Nadine Wenger, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Projekt «Naturwissenschaft ist (auch) Frauensache!» an der Universität Basel, gibt im Interview Auskunft über die Analyse von Physiklehrmitteln mit den GESBI-Kriterien ("Gender Equality School Book Index"). Sie erklärt, warum es wichtig ist, dass in Zukunft mehr als nur 5% der in einem der analysierten Lehrmittel dargestellten Personen weiblich sein sollten.
Im Rahmen des Projekts «Naturwissenschaft ist (auch) Frauensache!» haben Sie Schulbücher hinsichtlich Geschlechterstereotypen und Rollenmodelle analysiert. Welche Schulbücher haben Sie analysiert und wie haben Sie diese ausgewählt?
NW: Wir haben für unser Projekt das Lehrmittel «Physik für Mittelschulen» in der 2. Auflage von Hans Kammer und Irma Mgeladze, beide Gymnasiallehrpersonen, gewählt. Ausschlaggebend für dieses Buch war die Bereitschaft der Autor*innenschaft, das Schulbuch nach unserer Analyse zu überarbeiten.
Was hat Sie bei der Analyse überrascht? Was hat sich bestätigt?
Ehrlich gesagt, hat uns nicht viel überrascht. Es hat uns eher nachdenklich gestimmt, dass sich die Ergebnisse wiederholen und wir nach wie vor eine starke Verzerrung nach Geschlecht feststellen mussten. Die Ergebnisse der Schulbuchanalyse zeigen deutlich, dass männliche Einzelpersonen im Text weitaus häufiger dargestellt werden als weibliche (95 zu 5 Prozent). Zudem werden stereotype Darstellungen aufrechterhalten, und in der Darstellung der Fachinhalte dominiert die Erfahrungswelt männlicher Personen (zum Beispiel im Sport). Wir haben auch festgestellt, dass die beruflichen Vorbilder für Mädchen und junge Frauen stark untervertreten sind. Zudem fehlen breitere und lebensnähere Kontexte.
Warum ist es wichtig, dass Schulbücher geschlechtergerecht sind?
Die Forschungsergebnisse machen klar, dass nicht alle Geschlechter in den (naturwissenschaftlichen) Lehrmitteln gleichermassen angesprochen werden. Damit die Interessen von Schüler*innen bei der Ausbildungswahl nicht durch Stereotype eingeschränkt werden, müssen Geschlechterstereotype in den Lehrmitteln abgebaut werden. Diese hindern untern anderem insbesondere Mädchen, aber auch Jungen, daran, ihre Fähigkeiten in Mathematik und Naturwissenschaften adäquat einzuschätzen. Wir wissen, dass junge Frauen Berufe und Studienrichtungen im MINT-Bereich meiden. Ihnen bleibt damit nicht nur ein wesentlicher Bildungsbereich vorenthalten, sondern ihnen wird auch der Zugang zu prestigereichen Berufen in den Natur- und Ingenieurwissenschaften erschwert. Die horizontale Geschlechtersegregation bei der Berufs- und Studienwahl ist auch in der Schweiz seit Jahrzehnten persistent.
Nach welchen Kriterien wurden die Schulbücher analysiert? Was beinhaltet der Kriterienkatalog GESBI?
Unsere drei wichtigsten Kriterien für Text und Bild waren die folgenden:
1. Eine geschlechtergerechte Sprache: Dabei geht es um die Grammatik, Anrede und eine ausgewogene Darstellung der Anzahl Mädchen/Frauen* und Knaben/Männer*.
2. Gendersensible Vorbilder: Hier ist, sehr wichtig auch für den MINT-Bereich, vor allem die Darstellung von genderatypischen beruflichen Vorbildern relevant. Die Geschlechter sollten aber auch grundsätzlich in zeitgemässen, vielfältigen Rollen gezeigt werden (Frauen und Männer in der Öffentlichkeit, Erwerbstätigkeit, Familie, Freizeit und so weiter). Weiter nennen wir als wichtigen Punkt die ausgewogene Darstellung von Frauen und Männern in gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Funktionen.
3. Vielfältige Kontexte: Es wäre wünschenswert, dass sich die Fachinhalte an den sozialisationsbezogenen Vorerfahrungen und Interessen beider/aller Geschlechter orientieren. Das heisst, physikalische Objekte und Vorgänge sollten in alltagsnahe und diverse Kontexte (gesellschaftliche, politische, historische, medizinische und so weiter) eingebettet sein. Weiter müssen physikalische Begriffe sorgfältig eingeführt und reflektiert eingesetzt werden. Der Übergang von der phänomenalen zur modellhaften Wirklichkeit muss gut nachvollziehbar sein. Und nicht zuletzt sollen Fachinhalte in keinem Widerspruch zur Geschlechtsidentität der Schüler*innen stehen.
Was zeichnet ein geschlechtergerechtes Schulbuch aus?
Wenn die oben erwähnten Kriterien erfüllt sind, würden wir ein Schulbuch/Lehrmittel als geschlechtergerecht bezeichnen. Dieses könnte dann auch mit dem GESBI-Logo (Gender Equality School Book Index) versehen werden.
Welchen Einfluss haben Schulbücher auf das Interesse von Schülerinnen an Naturwissenschaften und Berufen aus dem MINT-Bereich?
Die Forschung zeigt, dass die Visibilität von weiblichen Vorbildern in der Naturwissenschaft eine wichtige Rolle für den Abbau von stereotypen Vorstellungen über die Kompetenzen von Frauen im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich (gender-science stereotype) spielt. Deshalb gehen wir davon aus, dass der Abbau von Geschlechterstereotypen in Lehrmitteln das Interesse von Mädchen am MINT-Bereich steigern und dadurch einen Beitrag zu einer gendersensiblen Berufs- und Ausbildungswahl leisten kann.
Wie sollen Lehrpersonen mit nicht oder nur teilweise geschlechtergerechten Lehrmitteln im Unterricht umgehen?
Zunächst einmal geht es darum, ein nicht oder nur teilweise geschlechtergerechtes Lehrmittel zu erkennen. Dazu haben wir zum Beispiel in der Handreichung für Lehrpersonen «Gendergerechtigkeit in Lehrmitteln für naturwissenschaftlichen Unterricht» eine Checkliste erarbeitet, basierend auf den drei GESBI-Kriterien. Die gängigen Schulbücher und auch eigens verfasste Unterrichtsunterlagen (zum Beispiel Arbeitsblätter) können mithilfe dieser Checkliste überprüft und ergänzt werden. Generell ist aber eine gendersensible Unterrichtsgestaltung wichtig, also dass ich als Lehrperson auf allfällige Geschlechterverzerrungen hinweise, weibliche Vorbilder (Physikerinnen, Naturwissenschaftlerinnen) in den Unterricht einbringe und thematisiere oder mit den Schüler*innen über die Untervertretung von Frauen in den MINT-Fächern/Berufen und deren Gründe gemeinsam diskutiere. Die Handreichung enthält auch weitere Kriterien für einen gendersensiblen Unterricht.
Sie haben die Überarbeitung des Lehrmittels Physik für Mittelschulen mit einer qualitativen Interviewstudie begleitet. Was ist dabei herausgekommen?
Wir haben sowohl Lehrpersonen als auch Schülerinnen und Schüler zur Geschlechterdarstellung in naturwissenschaftlichen Schulbüchern für die Sekundarstufe II befragt. Interessant ist zum Beispiel, dass Lehrpersonen hinsichtlich der Protagonist*innen in naturwissenschaftlichen Lehrbüchern erkennen, dass die Sprache in Physiklehrbüchern nicht geschlechtergerecht ist. Schülerinnen hingegen sind sich dessen nicht bewusst. In Bezug auf die Wichtigkeit der geschlechtergerechten Sprache haben sowohl Lehrkräfte als auch Schülerinnen unterschiedliche Meinungen. Bei den Bildern gehen Lehrpersonen und Schülerinnen von einer zahlenmässig deutlichen Unterrepräsentation der Protagonistinnen aus. Weiter lässt sich zu den beruflichen Vorbildern (Naturwissenschaftlerinnen, Physikerinnen) sagen, dass diese aus Sicht der Lehrpersonen wichtig, aber schwer zu finden sind. Aus Sicht der Schülerinnen sind weibliche Vorbilder ebenfalls wichtig, Schülerinnen würden aber zusätzlich eine Darstellung von zeitgenössischen, gemischtgeschlechtlichen (Natur-)Wissenschaftlerinnen begrüssen. Die Mehrheit der Schülerinnen erkennt die positive und vielfältige Wirkung von weiblichen Vorbildern unter anderem auf ihre Motivation, Identifikation, Selbstwertgefühl, Karriere und Berufswünsche für die Wahl einer naturwissenschaftlichen Ausbildung.
Weiterführende Links:
- Das «Science is (also) a woman's thing!»-Projekt: https://www.elenamakarova.ch/projects/science-is-also-a-woman-s-thing/
Kontakt:
- Nadine Wenger, lic. phil.: https://bildungswissenschaften.unibas.ch/de/personen/nadine-wenger/
- Prof. Dr. Elena Makarova (Projektleitung): https://www.elenamakarova.ch