Gendersensibel unterrichten - was es braucht, damit Lehrpersonen «genderkompetent» werden
Sanja Atanasova ist wissenschaftliche Mitarbeiterin, Lehrbeauftragte und Doktorandin an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen. Sie beschäftigt sich im Rahmen ihrer Dissertation mit dem Aufbau und der Weiterentwicklung der Genderkompetenz angehender Lehrpersonen. Im Interview gibt Sie einen Einblick in ihre Forschung und erklärt, was es braucht, damit Lehrpersonen kompetent gendersensibel unterrichten können.
Sanja, vielen Dank, dass du Dir Zeit für dieses Interview nimmst. Du beschäftigst Dich in deiner Forschungsarbeit unter anderem mit «Genderkompetenz». Was braucht es denn, dass (angehende) Lehrpersonen kompetent werden in Bezug auf gendersensiblen Natur- und Technik-Unterricht?
«Genderkompetenz» ist ein sehr vielschichtiger Begriff. Wenn man sich die Definitionen von Genderkompetenz im pädagogischem Umfeld anschaut, wird deutlich, dass damit nicht nur eine spezifische Fähigkeit, sondern viele verschiedene Fähigkeiten gemeint sind, die im komplexen Alltag einer Lehrperson gefordert werden. Es geht unter anderem darum, sich als Lehrperson bewusst zu werden, wie Geschlechterdifferenzen im Natur- und Technikunterricht überhaupt entstehen und wie diese minimiert werden können. Dafür benötigen Lehrpersonen entsprechendes Wissen, wie sie «genderrelevante» Aspekte in der Unterrichtsplanung und der Unterrichtsdurchführung berücksichtigen und erkennen können.
Eine genderkompetente Lehrperson hat zudem die Fähigkeit, Interaktionsprozesse geschlechtersensibel zu gestalten und diskriminierende Strukturen zu analysieren. Lehrpersonen sollten sich den eigenen Geschlechterstereotypen bewusst werden und den Natur- und Technikunterricht so gestalten, dass er für beide Geschlechter ansprechend ist und damit sowohl Mädchen als auch Jungen fördern. Dazu gehört auch, das eigene Handeln in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit zu reflektieren und kritisch zu hinterfragen.
Der Kompetenzbegriff ist heute in der Ausbildung von Lehrpersonen und auch im Schulalltag etabliert. Werfen wir nun einen Blick auf die Forschung zur Genderkompetenz und zum gendersensiblen Natur- und Technikunterricht. Was ist dazu bereits untersucht und beschrieben worden?
Aus der fachdidaktischen Forschung lassen sich verschiedene Faktoren ableiten, die für einen gendersensiblen Unterricht wichtig sind. Auf methodisch-didaktischer Ebene gehört beispielsweise der Einsatz von gendergerechten Unterrichtsmaterialien im Naturwissenschaftsunterricht dazu. Unterrichtsmaterialien können neben Fachinhalten auch Geschlechterstereotype und Geschlechternormen vermitteln, weshalb sie kritisch zu betrachten sind. Diverse Analysen von naturwissenschaftlichen Lehrmitteln, aber auch von Lehrmitteln in den Fächern Mathematik und Deutsch, weisen auf geringe Sichtbarkeit von gendersensiblen Vorbildern, unausgewogene sprachliche Darstellung von männlichen und weiblichen Personen sowie auf fehlende Kontextualisierung von Inhalten hin. Für den Naturwissenschaftsunterricht ist dieser Umstand und das Bewusstsein dessen besonders wichtig, da die Überpräsentation von Männern das Stereotyp verhärten kann, dass es sich bei Naturwissenschaften um eine Männerdomäne handelt.
Weiter wird der ausgeglichenen Interaktion zwischen Jungen und Mädchen im Unterricht eine wichtige Bedeutung beigemessen. Aus der Unterrichtsforschung geht hervor, dass Lehrpersonen den Jungen tendenziell mehr Zeit im Unterricht widmen. In diesem Zusammenhang sind Lehrpersonen auch angehalten, das eigene Interaktionsverhalten zu überprüfen.
Du sprichst die Geschlechterstereotype von Lehrpersonen an. In welchem Zusammenhang stehen diese mit der Kompetenz, gendersensibel zu unterrichten?
Aufgrund von Geschlechterstereotypen und damit verbundenen geschlechterstereotypischen Erwartungen und Vorstellungen können Lehrpersonen im Unterricht ein unterschiedliches Verhalten gegenüber Mädchen und Jungen zeigen. Zum Beispiel, wenn Lehrpersonen die Vorstellung haben, Jungen seien begabter in der Physik. Sie haben dann höhere Erwartungen an die Jungen und dies kann sich auch im Verhalten der Lehrpersonen zeigen. Unter anderem darin, dass schwierigere Aufgaben eher an Jungen gerichtet werden oder Mädchen auch bei gleichen Leistungen weniger Anerkennung von der Lehrperson erhalten.
Die Schülerinnen und Schüler registrieren ein solches geschlechterspezifisches Verhalten, auch wenn es der Lehrperson selbst vielleicht unbemerkt bleibt. Somit können sich die Geschlechterstereotype von Lehrpersonen nicht nur auf ihr eigenes Verhalten auswirken, sondern haben auch Einfluss auf die Lernenden. In einer Studie in Österreich konnte beispielsweise gezeigt werden, dass wenn Oberstufenlehrpersonen Naturwissenschaften als männlich konnotiert betrachten, dies in einen positiven Zusammenhang mit dem Selbstkonzept bei Jungen stand. Bei Mädchen hingegen steht das Stereotyp der Lehrpersonen im negativen Zusammenhang mit der Motivation. Insbesondere die impliziten, also die unbewussten Stereotypen von Lehrpersonen werden als wichtiger Faktor für das Ungleichgewicht von Jungen und Mädchen im MINT-Bereich angesehen. Gendersensibel zu unterrichten bedeutet daher auch, die eigenen Geschlechterstereotype zu reflektieren und sich ihren Auswirkungen bewusst zu werden.
Gibt es auch schon Hinweise, wie die Genderkompetenz von angehenden Lehrpersonen im Studium an den Pädagogischen Hochschulen aufgebaut bzw. gefördert werden kann?
Lehrpersonen zu befähigen, den Unterricht gendergerecht zu gestalten, ist vor dem Hintergrund, dass sie einen Einfluss auf die Motivation, das Interesse und das Selbstkonzept der Jugendlichen haben, ein wichtiges Anliegen. Obwohl die Notwendigkeit von Genderkompetenz bei Lehrpersonen unbestritten ist, mangelt es zurzeit noch an der flächigen und systematischen Integration in der Lehrpersonenausbildung. Ein wesentliches Ziel der Lehrpersonenausbildung muss daher sein, dass Studierende ein Bewusstsein für genderrelevante Aspekte wie zum Beispiel gendergerechte Unterrichtsmaterialien entwickeln, was als Voraussetzung für genderkompetentes Handeln gilt. Ein vielsprechender Ansatz ist die Sensibilisierung der Studierenden wie auch der Dozierenden im Sinne einer selbstreflexiven Haltung.
Daneben spielt das Wissen bezüglich der Geschlechterthematik im Bildungswesen eine wichtige Rolle. In den naturwissenschaftlichen Fächern kann man davon ausgehen, dass die vielfach dokumentierten Leistungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen nicht auf kognitive Fähigkeitsunterschiede zurückzuführen sind, sondern vielmehr Einflussfaktoren wie ein geringeres Selbstkonzept, eine geringe Selbstwirksamkeitserwartung, ein ungünstiges Attributionsverhalten von Mädchen respektive Jungen und nicht zuletzt auch das Image des Fachs als Erklärungsansätze herangezogen werden können. Das Wissen um die stereotypen Vorstellungen der Lernenden, aber auch die der Lehrpersonen und deren Einfluss auf den Unterricht, sind bedeutende Komponenten der Genderkompetenz. Befunde aus der Unterrichtsforschung in Lehrveranstaltungen einzugliedern, ist äussert wichtig, um die Ursachen der Geschlechterunterschiede zu verstehen und Massnahmen im Hinblick auf die eigene Unterrichtspraxis abzuleiten.
Kannst du uns zum Schluss noch ein paar Tipps auf den Weg geben, was eine Lehrperson beachten kann, um gendersensiblen Natur- und Technik-Unterricht zu gestalten?
Viele Lehrpersonen sind bezüglich der Geschlechterthematik bereits sensibilisiert und sind bestrebt, einen genderkompetenten Unterricht zu gestalten. Oft ist man sich aber seinem eigenen geschlechterspezifischen Verhalten gar nicht bewusst. In diesem Bereich kann es helfen, wenn man einzelne Unterrichtsstunden aufnimmt, sich diese in Ruhe nochmals anschaut und im Hinblick auf gendergerechtes Verhalten überprüft. Zum Beispiel mit einer Strichliste, wie oft man Jungen und wie oft man Mädchen tatsächlich aufruft. Oder bei gegenseitigen kollegialen Hospitationen kann im Unterricht bewusst der Fokus auf gendergerechten Unterricht gelegt werden. Auch gibt es bereits viele Checklisten für einen gendergerechten Naturwissenschaftsunterricht, die als Orientierung helfen. Handreichungen, um die Gendergerechtigkeit in Lehrmitteln zu überprüfen, sind ebenfalls verfügbar.
Vielen Dank, dass Du Dir für dieses Interview Zeit genommen hast.
Das Interview wurde von Daniel Gysin (schriftlich) durchgeführt.
Weiterführende Literatur zum Thema Genderkompetenz und Geschlechterstereotype:
- Budde, J. & Venth, A. (2010). Genderkompetenz für lebenslanges Lernen: Bildungsprozesse geschlechterorientiert gestalten. Perspektive Praxis. Bielefeld: Bertelsmann.
- Stadler-Altmann, U. (Hrsg.). (2013). Genderkompetenz in pädagogischer Interaktion. Opladen: Budrich.
- Thomas, A. E. (2017). Gender Differences in Students’ Physical Science Motivation: Are Teachers’ Implicit Cognitions Another Piece of the Puzzle? American Educational Research Journal, 54(1), 35–58. https://doi.org/10.3102/0002831216682223
- Wedl, J. & Bartsch, A. (Hrsg.). (2015). Teaching Gender? zum reflektierten Umgang mit Geschlecht im Schulunterricht und in der Lehramtsausbildung. Bielefeld: transcript.